I.
Einleitung
Pierre Boulez wurde 1925 in Montbrison/Loire geboren. Er studierte
in Paris bei Messiaen und Leibowitz und war von 1946-56 Musikleiter
des Theatre Marigny. Seit 1975 ist er Leiter des Institut de Recherche
et de Coordination Acoustique-Musique (IRCAM) in Paris. Desweiteren
arbeitet er als Dirigent und dirigiert außer Neuer Musik auch
Klassik. Boulez war in den 50´er Jahren einer der wichtigsten
Komponisten der seriellen Musik, welche eine totale Bestimmbarkeit
von Einzeltönen ohne traditionelle motiv.-thematische Arbeit
und die Gleichberechtigung aller Elemente einer Komposition zum Ziel
hatte. In diesem Zusammenhang schrieb er 1952 die Structure I. Dabei
handelt es sich um ein streng serielles Musikstück für zwei
Klaviere zu vier Händen. Angeregt wurde er bei seiner Komposition
von der 1949 in Darmstadt entstandenen Klavieretüde Mode
de valeurs et d´intensites seines Lehrers Olivier Messiaen
(vgl. Fuhrmann, Structure I ). Die Uraufführung fand
am 04.05.1952 in Paris statt. Boulez selbst fordert von einer Analyse,
daß man allgemeine Aussagen über ein Werk erst machen soll,
nachdem man die einzelnen Strukturen genauer betrachtet hat und dann
ihren Beziehungen untereinander untersucht. Das Werk solle nicht als
aufgestellte Bilanz erscheinen, sondern als Ableitung von Strukturen
(vgl. Eckart-Bäcker, Structure I 390). Die Structure
I zählt zu Boulez bedeutensten Kompositionen, da sie ein Schulbeispiel
für Serialismus zu Beginn der 50´er angesehen werden kann
und vor allem der Teil Ia leicht durchschaubar komponiert ist. Insgesamt
besteht das Stück aus drei Teilen (Ia, Ib, Ic) unterschiedlicher
Länge. Ia dauert 3,5 min., Ib 8.5 min. und Ic 2 min. Die Darstellung
der Konstruktionsprinzipien soll am Beispiel Ia erläutert werden.
II. Analyse
A. Überblick
György Ligeti befaßt sich in einem Aufsatz von 1958 intensiv
mit der Analyse von Structure Ia. Dabei teilt er den Kompositionsvorgang
in drei Arbeitsphasen auf. Die erste nennt er Entscheidung I. Dort
findet die Auswahl der Elemente, die Wahl der Anordnung dieser Elemente
und die Anordnung der Anordnungen statt. In einer zweiten Phase, die
Ligeti Automatik nennt geht es darum, wie die Elemente auf Grund der
gewählten Beziehungen automatisch zu Strukturen werden. Entscheidung
II nennt er die dritte Phase in welcher weitere Verarbeitungen vorgenommen
werden. Ligeti verwendet diese Aufteilung, doch es ist ihm bewußt,
daß es sich dabei um eine simplifizierte Betrachtung handelt
(vgl. Ligeti, Entscheidung und Automatik 38).
B. Die Tonqualitätsreihen
Die Tonreihe ist die Gleiche, die Olivier Messiaen in der Division
I seines Werkes Mode de valeur et d´intensites benutzt. Man bezeichnet
sie als Tonqualitätsreihe, da die Lage der Töne im Raum
nicht festgelegt ist. Die Töne der Originaltonreihe laute im
einzelnen: 1= eb, 2= d, 3= a, 4= as, 5= g, 6= fis, 7= e, 8= cis, 9=
c, 10= b, 11= f, und 12= h. Diese Reihe wird nun, wie in der Dodekaphonie
üblich transponiert und in den jeweiligen Umkehrungen, Krebsen
und Umkehrungskrebsen verarbeitet. Daraus resultieren insgesamt 48
Erscheinungsformen. In der Anordnung der einzelnen Transpositionen
bezieht sich Boulez auf Tabellen bzw. Magische Quadrate, deren Additionsreihen
waagerecht und senkrecht die Zahl 78 ergeben (vgl. Fuhrmann, Structure
I). Es gibt ein Quadrat für die Originalreihen und eins
für die Umkehrungen und deren Transpositionen. Die Entstehung
dieser Quadrate geht auf die Aneinanderreihung von Originalreihen
(TR) und Umkehrungen (TU) zurück. TR1 wird von TU1 gefolgt, TR2
von TU2 usw. Liest man nun die Zahlenreihen von rechts nach links,
kann man in gleicher Art un Weise die Krebse und Umkehrungskrebse
ablesen.
C. Die Dauernreihen
Der Unterschied zur Zwölftonmusik besteht darin, daß Boulez
nicht nur die Tonhöhen mit Reihentechnik bestimmt, sondern auch
die anderen Parameter, wie Dauer, Dynamik und Anschlagsart. So wählt
er für die Dauern ebenfalls zwölf verschiedene Werte. Die
Zahl 12 kann man dabei als willkürlich ansehen, jedoch können
metrische Betonungen und Tonhöhen-Dynamik durch solche Reihen
vermieten werden. Wiederum nach dem Vorbild Messiaens wählt er
eine Zweiunddreisigstel als Grundeinheit. Dieser Wert wird mit den
Zahlen von 1-12 multipliziert, so das als zweiter Wert eine Sechzehntel,
dann eine punktierte Sechszehntel, dann eine Achtel usw. entsteht.
Der längste Wert, der bei einer solchen Konstruktion erreicht
wird ist der einer punktierten Viertel. Messiaen verwendet in Mode
de valeur et d´intensites die gleich Dauernreihe in Division
I. In Division II nimmt er als Grundeinheit den Wert einer Sechzehntel
und in Division III sogar den einer Achtel. Die entstandenen Dauernreihen
(DR) ordnet Boulez gemäß den Zahlenquadraten an. Die Tonqualitätsreihe
TR1 korrespondiert mit der Dauernreihe DR1, somit TR2 mit DR2 usw.
Für DR2 ergibt sich also die Ordnungszahlenreihe: 2, 8, 4, 5,
6, 11, 1, 9, 12, 3, 7, 10. Ligeti sieht in diesem Punkt der Dauernpermutation
einen Kritikpunkt an der Arbeit Boulez, da ursprüngliche Ordnungszahlen
plötzlich wertbezeichnend benutzt werden. Er bezeichnet diesen
Vorgang als Unorganisch. Das Unorganische steckt in der funktionslosen
Transplantation eines Systems:... (Ligeti, Entscheidung
und Automatik 41). Den Unterschied zur Anwendung der Zahlenquadrate
bei den Tonqualitätsreihen sieht er darin, daß dort die
Intervallverhältnisse gleich bleiben. Er bezeichnet den Vorgang
dort als organisch. Rhythmik und Taktarten sind in Structure Ia aufgrund
der gewählten Dauernreihen einem permanenten Wandlungsprozeß
ausgesetzt, der vom Ohr nicht mehr im Einzelnen nachvollzogen werden
kann.
D. Die Dynamikbezeichnungen
Dabei nimmt Boulez wiederum Messiaens Werk als Vorbild, erweitert
dessen Konstruktion von sieben verschiedenen Intensitätsbezeichnung
aber auf Zwölf. Während Messiaen ppp, pp, p, mf, f, ff,
und fff verwendete, arbeitet Boulez mit: pppp, ppp, pp, quasi p, mp,
mf, quasi f, f, ff, fff und ffff. Bei dieser starken Unterteilung
der Dynamikbezeichnungen ergibt sich das Problem der Ausführung.
Im Gegensatz zu den Tonhöhen, die am Klavier fest vorgegeben
sind und den Dauern, welche relativ genau meßbar sind, sind
die Intensitäten nur ungefähr abschätzbar. Dies wäre
aber noch kein schwerwiegendes Problem, da der Zuhörer die Unterschiede
nicht abmessen kann, jedoch könnten bei einer solch genauen Differenzierung
Fehler in der Art entstehen, daß der Interpret an irgendeiner
Stelle des Stückes beispielsweise ein p lauter spielt als ein
quasi p an einer anderen Stelle. Die Anordnung der festgelegten Itensitäten
schafft Boulez, indem er die Zahlenquadrate als Schachbrett benutzt
und sich wie die Figur des Läufers im Schach diagonal fortbewegt.
Mit dieser Methode schafft er vier verschiedene Ordnungen der Dynamik.
Die erste Reihe durch die Diagonale von links unten nach rechts oben.
Das sind die Ziffern: 12= ffff, 7= mf, 7= mf, 11= fff, 11= fff, 5=
qausi p, 5= quasi p, 11= fff, 11=fff, 7= mf, 7= mf und 12= ffff. Die
zweite Reihe entsteht aus dem gleichen Weg im Zahlenquadrat der Umkehrungsreihen.
Die dritte Reihe gewinnt er durch zwei Diagonalen die je sechs Ziffern
beinhalten, einmal geht die Bewegung von rechts unten nach links oben
und einmal von links oben nach rechts unten. Die Zahlenkombination
lautet somit: 2, 3, 1, 6, 9, 7/7, 9, 6, 1, 3, 2, . Gleiches Verfahren
gilt für die vierte Reihe im Umkehrungsquadrat. Ligeti bezeichnet
diese Reihen mit a, b, c und d. An einigen Stellen weicht Boulez von
diesen Reihen ab. Die Gründe dafür sind Überdeckungen
die entstehen würden, wenn z.B. in den Takten 32-39 wie normalerweise
geplant im Klavier II die Intensitätt ffff stehen würde,
könnte man das Klavier I (quasi p) an dieser Stelle nicht hören.
Daher verwendet Boulez dort nur die Bezeichnung fff. Ligeti bewertet
diese Vorgehensweise als legitim, befindet aber insgesamt die Auswahl
der dynamischen Proportionen nach Diagonalverfahren für unfunktionell,
da sie nicht aus der musikalischen Materie hervorgeht, sondern schlichte
Zahlenabstraktion ist. Das einfache p tritt z.B. nie auf, da die Diagonale
die Ziffer 4 nicht schneidet (vgl. Ligeti, Entscheidung und
Automatik 43).
E. Die Artikulation
Bei den Anschlagsarten bleibt Boulez unabhängig von Messiaen,
der in Mode de valeur et d´intensites 12 verschiedene verwendete.
Boulez beschränkt sich auf 10, die er aber von 1-12 numeriert.
Da die Ziffern 4 und 10 bei der Anordung nicht vorkommen lässt
er sie bei der Aufstellung der Artikulationsreihe einfach weg. Er
arbeitet mit folgender Reihe:
Diese zehn unterschiedlichen Anschlagsarten exakt zu interpretieren
ist noch um einiges unwahrscheinlicher, als die Intensitäten
genau zu kontrollieren. Bei einem Saiteninstrument währe dies
eher möglich, da die Saiten auf unterschiedlichen Weise zum Klingen
gebracht werden können. Am Klavier handelt es sich, bei herkömmlicher
Spielweise um ein Produkt von Dauer und Intensität. Es ist also
kein sebständiges Parameter. Probleme entstehen z.B. wenn Intensitätswerte
und Anschlagsarten kontrapunktierend eingesetzt sind. So findet man
beispielsweise in Takt 73-81 die Anweisung pppp zusammen mit dem Anschlagszeichen
>. . Es erscheint logisch, daß solche Anweisungen kaum zu
interpretieren sind. Boulez Reihe der Anschlagsarten ist beliebig,
da es zwischen den Werten legato und staccatissimo keine Reihenfolge
von eindeutiger Richtung gibt (vgl. Ligeti, Entscheidung und
Automatik 44). Die serielle Anordnung der Anschlagsarten erfoglt
widerum mit Hilfe der Zahlenquadrate. Diesmal wählt Boulez die
Zahlen spiegelbildlich zu den Dynamik-Werten. So entstehen vier unterschiedliche
Artikulationsreihen. Die Ordnungszahlen dieser Reihen sind:
a= 5, 5, 11, 3, 12, 11, 3, 12, 8, 1, 8, 1,
b= 12, 12, 8, 3, 5, 8, 3, 5, 11, 1, 11, 1,
c= 6, 6, 2, 2, 6, 6, 9, 1, 5, 5, 1, 9,
d= 6, 1, 12, 12, 1, 6, 9, 9, 7, 7, 9, 9,
Das vorkommen der einzelnen Elemente ist bei einer solchen Anordnung
asymetrisch. Das Element 1 kommt hier achtmal vor, während z.B.
die Elemente 2 und 7 nur zweimal und wie bereits erläutert die
Elemente 4 und 10 nicht vorkommen.
F. Die Anordnung der Anordnungen
Die 48 Fäden die durch die Anordnung der Tonqualitätsreihen
und der Dauernpermutationen entstehen werden streng seriell in all
ihren Erscheinungsformen gespielt. Die Dynamik und die Anschlagsart
ändert sich nur von Faden zu Faden, während die Tonhöhe
und die Dauer innerhalb der Fäden ständigen Veränderungen
unterliegt. Die gesamte Komposition ist horizontal und vertikal geteilt.
Die vertikale Teilung ergibt einen Teil A und einen Teil B. Teil A
beinhaltet die Tonqualitätsreihen in Originalform und Umkehrung,
die Dauernreihen aber in Krebs und Umkehrungskrebs. Dementsprechend
verwendet Teil B Krebs und Umkehrungskrebs bei den Tonqualitätsreihen
und Originalform und Umkehrung bei den Dauernreihen. Die horizontale
Teilung gliedert diese Teile nochmal dadurch, daß die Reihenformen
auf die zwei Klaviere verteilt werden. So entstehen vier Sektoren.
A1 (Teil A, Klavier 1) enthält bezogen auf die Tonqualitätsreihen
die Transpositionen der Originalform. A2 (Teil A, Klavier 2) enthält
die Umkehrungen, B1 die Umkehrungskrebstranspositionen und B2 die
Krebstranspositionen. Bezogen auf die Dauernreihen ergibt sich folgendes:
A1= Umkehrungskrebs, A2= Krebs, B1= Umkehrung B2= Originalform. Bei
den Anordnungen der Reihenfäden in den einzelnen Sektoren geht
Boulez weiterhin streng seriell vor. Er ordnet die Anfangstöne
der Originalreihen bezogen auf die Tonqualitäten in A1 so an,
daß sie die Reihe TU1 (erste Transposition der Umkehrung) ergeben.
In A2 sind die TU gemäß TR1 geordnet usw. Mit den Dauernreihen
verfährt er ebenso, muß aber aufgrund der fehlenden Beziehungen
dieser Reihen um eine gewisse Einheit zu sichern zweimal die Gleiche
übergeordnete Reihe verwenden. Die Anordnung der Dynamik und
der Artikulation ist pro Sektor auf eine der jeweils vier Reihen zurückzuführen.
Eine Gesamtübersicht der Anordnungen in den vier Sektoren wird
von Ligeti wie folgt zusammengefaßt:
|
Teil
A |
Teil
B |
Klavier 1 |
Summe
der TR geordnet nach TU 1 |
Summe der TUK geordnet nach TUK 1 |
Summe
der DUK geordnet nach DUK 1 |
Summe der DU geordnet nach DRK 1 |
Dynamik gemäß a |
Dynamik gemäß c |
Anschläge
gemäß b |
Anschläge gemäß d |
Klavier 2 |
Summe
der TU geordnet nach TR 1 |
Summe der TRK geordnet nach TRK 1 |
Summe
der DRK geordnet nach DRK 1 |
Summe der DR geordnet nach DUK 1 |
Dynamik gemäß b |
Dynamik gemäß d |
Anschläge gemäß a |
Anschläge gemäß c |
(Ligeti, Entscheidung und Automatik 49).
Structure Ia besteht aus 14 Sinnabschnitten (Inhalt 78 32s´tel),
die durch unterschiedliche Tempi und Fermaten zu erkennen sind. Nun
hat aber sowohl der zweite, dritte und vierte Abschnitt ein gemeinsames
Tempo, als auch der sechste und der siebte. Fasst man diese zu Großabschnitten
zusammen bleiben 11 Abschnitte übrig. Ligeti faßt die Gliederung
wie folgt zusammen:
Teil
A: |
Erster Abschnitt (I) |
Takt
1-7 |
Zweiter
Abschnitt (IIa) |
Takt
8-15 |
Dritter
Abschnitt (IIb) |
Takt 16-23 |
Vierter
Abschnitt (IIc) |
Takt 24-31 |
Fünfter Abschnitt (III) |
Takt
32-39 |
Sechster Abschnitt (IVa) |
Takt
40-47 |
Siebenter
Abschitt (IVb) |
Takt
48-56 |
Achter Abschnitt (V) |
Takt 57-64 |
Teil
B: |
Neunter Abschnitt (VI) |
Takt 65-72 |
Zehnter Abschnitt (VII) |
Takt 73-81 |
Elfter
Abschnitt (VIII) |
Takt 82-89 |
Zwölfter
Abschnitt (IX) |
Takt 90-97 |
Dreizehnter Abschnitt (X) |
Takt
98-105 |
Vierzehnter
Abschnitt (XI) |
Takt 106-115 |
(Ligeti, Entscheidung und Automatik 50).
Die Anzahl der Abschnitte auf den zwei Teilen ist somit unsymetrisch.
Betrachtet man die Fadendichte in den einzelnen Abschnitten, so fällt
auf, daß die durchschnittliche Dichte im Teil B höher ist,
als jene in Teil A., der ja mehr Abschnitte beinhaltet. Die Dichte
kann zusammen mit dem Tempo betrachtet werden. Es gibt drei verschiedene
Tempi Achtel-120, Achtel- 144 und Sechszehntel- 120. Im Zusammenhang
dieser beiden Parameter lassen sich mit Hilfe einer graphischen Darstellung
(vgl. Eckart-Bäcker, Structure I 394) vier Abschnitte
erkennen. Im ersten ist das Tempo fast gleichbleibend mit einer mittleren
Dichte, im zweiten gibt es extreme Tempo- und Dichteunterschiede,
im dritten hohes Tempo und mäßige Dichte, danach nehmen
Tempo und Dichte sprunghaft zu. Vergleicht man das Tempo von Ia mit
Ib und Ic so handelt es sich insgesamt um den langsamsten Teil der
Structure I. Die Dichte betreffend ist hier die größte
Transparenz festzustellen (vgl. Fuhrmann, Structure I
2.4). |
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