J.S. Bach und das Lied
(Musikgeschichte)

I. Einleitung
Bei der Betrachtung der Liedkompositionen Johann Sebastian Bachs bedarf es zunächst einer historischen Einordnung. Dabei ist es notwendig, allgemeine musikalische Bedingungen dieser Zeit zu berücksichtigen und Merkmale des Liedes im 17./18. Jahrhundert zu benennen. Desweiteren werden biographische Daten Bachs, die den Zeitraum seines Liedschaffens umrahmen aufgezeigt, um dann auf die Lieder selbst einzugehen. Welche Rolle das Lied im kompositorischen Schaffen J.S. Bachs gespielt hat, wie Bachs Arbeitsweise war, und wie die Gestaltung seiner Lieder sich darstellt, sind Fragen, die im Folgenden geklärt werden sollen. Als Hauptquellen Bachscher Lieder dienen das Schemellische Gesangsbuch aus dem Jahr 1736 und das zweite Notenbüchlein seiner Frau Anna Magdalena von 1725. Einige Notenbeispiele sind im Anhang zu dieser Arbeit zu finden. Es handelt sich dabei um Lieder, die nach aller Wahrscheinlichkeit von J.S. Bach komponiert oder zumindest bearbeitet wurden.

A. Ausgewählte biographische Daten
Am 21. März 1685 wurde J.S. Bach in Eisenach geboren. Sein Vater war Stadtmusiker, wodurch J.S. schon sehr früh und fortwährend mit Musik in Kontakt kam (vgl. Eggebrecht, Musik im Abendland, 420). Nach dem Tod der Eltern wurde er von seinem ältesten Bruder, Johann Christoph Bach in Ohrdruf aufgenommen. Dieser war Schüler des Orgelkomponisten Johann Pachelbel, somit war die weitere Beschäftigung mit Musik in J.S. Bachs Leben eine logische Konsequenz. 1703 trat er die Stelle des Organisten in Arnstadt an. Er begleitete dort einen Schülerchor und spielte bei den sonn- und feiertäglichen Messen die Orgel. Am 15. Juli 1707 wechselte er seine Stelle und wurde Stadtorganist und Director musices in Mühlhausen/Thüringen. Daraufhin folgte 1708 die Anstellung zum Hoforganisten und Kammermusicus am Weimarer Hof, wo er neun Jahre tätig war und 1714 Hofkonzertmeister wurde. Die nächste wichtige Station war seine Tätigkeit als Kapellmeister in Köthen. Hier fand er noch bessere Bedingungen für sein musikalisches Schaffen vor, als das bereits in Weimar der Fall gewesen war. Außerdem lernte er dort die damals neunzehnjährige Sängerin Anna Magdalena Wilcke kennen, die er nach dem Tod seiner ersten Frau Maria Barbara, 1721 heiratete (vgl. Eggebrecht, Musik im Abendland, 430). In Köthen beschäftigte sich J.S. Bach vornehmlich mit der Instrumentalmusik, so entstanden hier beispielsweise die sehr bekannt gewordenen Brandenburgischen Konzerte. Nach dem Tod des Leipziger Thomaskantors Johann Kuhnau wurde J.S. Bach dessen Nachfolger als Kantor und Director musices. „Als Musikdirektor der Leipziger Hauptkirchen sind ihm sowohl deren Organisten als auch die Stadtpfeifer und Kunstgeiger unterstellt.“ (Forchert, Johann Sebastian und seine Zeit, 20). Ein Jahr nach der Aufführung seines ersten Oratoriums, der Johannes-Passion entstand ab 1725 das zweite Clavierbüchlein für Anna Magdalena Bach. Schließlich wurde J.S. Bach 1736 Hofkomponist in Dresden. In diese Zeit fällt das Erscheinen des Musicalischen Gesangsbuch von G.Chr. Schemelli. 1750 starb J.S. Bach in Leipzig an den Folgen einer Augenoperation.

B. Bedingungen zur Zeit Bachs
Während der Jugendzeit J.S. Bachs hatte Deutschland gerade den Dreissigjährigen Krieg hinter sich gelassen. Die Folgen waren aber noch lange nicht überwunden, so war die Situation der Landbevölkerung weiterhin sehr schlecht. Anzeichen für wirtschaftlichen Aufschwung und Normalisierung der Lebensverhältnisse gab es vor allem in Residenz- und Handelsstädten. Fürstliche Selbstdarstellung am Vorbild Ludwigs XIV rückte in den Mittelpunkt. Theater und Schlösser wurden neu errichtet oder vergrössert und damit wurde auch der höfische Kunstbetrieb zu neuem Leben erweckt (vgl. Forchert, Johann Sebastian und seine Zeit, 39). In Thüringen, wo Bach eine lange Zeit seines Lebens verbrachte, war dieser Gegensatz von bäuerlich-bürgerlichem und höfischem Leben besonders groß. Nahezu jeder Fürst hatte seine eigene Hofkapelle oder zumindest einige Musiker, die er großzügig entlohnte. Man stand Neuerungen in der Musik, vor allem denen die aus Frankreich und Italien nach Deutschland kamen, aufgeschlossen gegenüber. In den Feldern der Musikausübung, die nichts mit den Höfen zu tun hatten, war dagegen seit der Reformationszeit alles gleich geblieben. Die Schule, die Kirche, die Kantoren und die Organisten waren die Träger jeglicher Musikausübung. Da die Fürstenhöfe aber einen hohen Bedarf an Musikern hatten und viele provinzielle Musiker diese Chance, eine Anstellung am Hofe zu bekommen nutzten, gab es immer wieder Berührungspunkte zwischen den sonst so unterschiedlichen musikalischen Sphären. Dies bedeutete nicht ausschließlich Positives, denn wie sich vermuten lässt entstanden eine Reihe von Streitpunkten, was die Bezahlung der Musiker und den musikalischen Stil angeht. Alle Musiker dieser Zeit waren von der Verschiedenartigkeit der musikalischen Bedingungen und Ansichten beeinflusst. Es gab Grenzüberschreitungen auf beiden Seiten, aber auch heftige Abgrenzungen beider Richtungen gegeneinander.
Bach, dessen Lebensweg über kirchliche, städtische und höfische Ämter führte, ist von den verschiedenen Sphären, in die er damit gelangte, in wechselnder Weise angezogen worden; völlig verschrieben hat er sich keiner. Und so gibt denn auch das Bild des Thomaskantors ebensowenig das Ganze seiner Persönlichkeit und seines Schaffens wieder wie das des Kapellmeisters Bach.
(Forchert, Johann Sebastian und seine Zeit, 41).

II. J.S. Bach und seine Zeit in Leipzig

Da sich diese Arbeit hauptsächlich mit den Liedern J.S. Bachs auseinandersetzt und sich dabei vorwiegend auf das zweite Notenbüchlein Anna Magdalena Bachs bezieht, ist es notwendig Bachs Wirken zur Zeit der Entstehung des Notenbüchleins in Leipzig etwas genauer zu betrachten. Wie bereits in der Biographie erwähnt, wechselte J.S. Bach 1723 von Köthen nach Leipzig, um dort die Stelle des Thomaskantors zu übernehmen. Er wusste, dass ihn dort ein schwierige und bedeutende Aufgabe erwartete, welcher er sich aber selbstbewußt stellte. Konflikte sollten sich auch hier ergeben, doch er hatte bereits bei verschiedenen anderen Stationen bewiesen, dass er bereit war seine Meinung auch gegen höhergestellte Personen zu verteidigen und aufrecht zu erhalten. Trotz einiger Streitpunkte waren die ersten Jahre in Leipzig eine sehr erfolgreiche Zeit für J.S. Bach. Er war schon vorher sowohl als Klavier- und Orgelspieler als auch als Komponist recht bekannt, doch nun zählte er zusammen mit Händel und Telemann zu den wichtigsten Repräsentanten deutscher Musik (vgl. Forchert, Johann Sebastian und seine Zeit; 126). Diesen hohen Stellenwert hatte Bach sich jedoch hart erarbeitet. Nachdem er zu Anfang seiner Tätigkeit in Leipzig noch auf Kantaten zurückgreifen konnte, die er bereits zu einem früherem Zeitpunkt komponiert hatte, musste er später jede Woche eine neue Kantate komponieren, das Aufführungsmaterial herstellen lassen und das Werk mit dem Chor einstudieren. Intensive und gut organisierte Proben waren daher unabdingbar. Der Arbeitsaufwand war sowohl für Bach selbst als auch für seine Chorschüler auf Dauer nicht durchzuhalten, daher erstreckte sich sein dritter Kantatenjahrgang über mehr als zwei Jahre (1725/1726) und war zusätzlich in vielen Fällen nicht so aufwendig gestaltet, wie die vorherigen Jahrgänge. Darüber hinaus führte er zur jener Zeit einige Kantaten seines Vetters Johann Ludwig Bach auf. Mit der Aufführung der Matthäus-Passion 1727, mit der J.S. Bach im Hinblick auf Grösse der Besetzung und Dauer einer Komposition alles in den Schatten stellte, was er bis dahin komponiert hatte, gelangte er zu noch höherem Ansehen in der Bevölkerung, im Besonderen unter den Studenten. Die ersten sechs Leipziger Jahre waren im musikalischen Schaffen Bachs sehr stark auf die Kirchenmusik konzentriert. Er schrieb aber auch weltlichen Kantaten und es kam vor das Teile aus den weltlichen Kantaten später in geistlichen Werken auftauchten. Das Komponieren von Instrumentalmusik spielte zu dieser Zeit bei Bach eine geringere Rolle. Er stellte es jedoch nie ganz ein. So begann er 1726 mit seinen Clavierübungen, die ihn bis kurz vor seinen Tod beschäftigten.

III. Das Lied im 17. und 18. Jahrhundert
Um im weiteren Verlauf eine Einordnung und Bestimmung der Lieder J.S. Bachs vornehmen zu können, sind zunächst einige allgemeine Erläuterungen zur Gattung des Liedes im 17./18. Jh zu treffen. Bei dem zu dieser Zeit üblichen Generalbasslied unterscheidet man zwischen mehrstimmigem Lied und Sololied. Eine weitere Form ist das Klavierlied ab dem 18. Jahrhundert. Das Generalbasslied entwickelte sich in Deutschland aus den mehrstimmigen italienischen Liedgattungen Vilanella und Canzonetta. M. Franck komponierte sehr viele mehrstimmige, weltliche Lieder. Zu Nennen sind auch Th. Selle und Joh. H. Schein. Die meisten Lieder hatten eine direkte Verbindung zum Tanz und waren teilweise noch stark an der traditionellen Stimmbehandlung mit Cantus-firmus im Tenor orientiert (vgl. Jost, MGG/Lied, Sp. 1277). Die Texte entstammten ebenfalls oft älterer Zeit. Schein und sein Schüler Selle waren in ihren Kompositionen mehr an den italienischen Vorbildern angelehnt als Franck. Ihre Texte wandten sich einer mythologisierenden Schäferpoesie zu. Bei Schein werden drei Aufführungsarten unterschieden:
1. Das rein vokale Lied mit drei Singstimmen,
2. Das rein instrumentale Lied und
3. vokal-instrumental gemischtes Lied.
Das Selbstschreiben der Texte wurde in der Nachfolgenden Generation kaum noch ausgeübt, man vertonte statt dessen fremde Dichtungen. Diese waren am Anfang des 17. Jahrhunderts von keiner grossen Qualität, da die Wortwahl stark vom Ausland beeinflusst war und Unsicherheiten in der Versmetrik vorlagen. Es ist anzunehmen, dass diese Umstände mit dafür verantwortlich waren, dass das mehrstimmige Lied lange Zeit vor dem einstimmigen Generalbasslied rangierte. Erst ab 1640-1680 spielt das kunstvolle, einstimmige Lied eine wichtigere Rolle. Die textlichen Inhalte befassten sich mit Themen, wie Vergänglichkeit und Tod, Lebens-und Liebesgenuss, Natur, Einsamkeit und bürgerlicher Geselligkeit. Das mehrstimmige Lied der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts konnte das erreichte Niveau nicht halten. Die Regel war die Vertonung scherzhafter Texte aus der Tradition der Studentenlieder. Das generalbaßbegleitete Sololied geht zum einen auf das mehrstimmige Lied und zum anderen auf die italienische Monodie und deren Prinzipien zurück. Die Grenzen zum konzertanten, mehrstimmigen Lied sind jedoch bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts fließend. Nachdem im 16. Jahrhundert Augsburg und Nürnberg die Zentren des deutschen Liedes waren, wurde ab ca. 1640 der Norden und hier vor allem Hamburg immer bedeutender. Hier sind in erster Linie der musikalisch gebildete Dichter Joh. Rist und der Komponist Joh. Schop zu nennen, die für eine große Anzahl von Liedveröffentlichungen verantwortlich sind. Es wurde immer gebräuchlicher schon vorhandene Originalmelodien zu übernehmen und gegebenenfalls zu verändern. Ähnlich verhielt es sich mit den Texten, die man häufig lediglich aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzte. Um 1670 erlebt das Solo-Generalbaßlied seine Blütezeit in Deutschland. Oft gab es zum Generalbaß noch eine obligate Violinstimme. In dieser Zeit entwickelte sich Sachsen zum Zentrum des deutschen Sololiedes. Die wichtigsten Namen in diesem Zusammenhang sind Hammerschmidt, Dedekind und A. Krieger, dessen Arien auf Tanz- und Volkslieder zurückgehen und zwischen den Strophen instrumentale Ritornelle enthalten. Diese Tendenz zum Konzertanten beeinflusste das Sololied im späten 17. Jahrhundert. Die nachfolgenden Komponisten verwendeten Elemente der italienischen Kantate und der Opernarie. Das eigentlich Liedhafte wurden immer mehr zurückgedrängt, womit das geistliche Lied wieder stärker in den Vordergrund geriet. Im Süddeutschen Raum behielt das Lied in höherem Maße seinen schlichten und volkstümlichen Charakter als in Mittel- und Norddeutschland (vgl. Jost, MGG/Lied, Sp. 1284). Obwohl ein gewisse Verdrängung durch populärere Formen stattfand, wurde die Liedpflege natürlich nicht ganz eingestellt, dennoch gilt die Zeit nach 1700 allgemein als liederlos. Den Komponisten gefiel es ihr Können beim Schreiben von Kammerkantaten und Opernarien zu demonstrieren. Liedkomposition galt als niedere Schreibart. Als Lied wurde nun ein Singstück ohne Kunstanspruch bezeichnet. Erst ab 1730 erschienen wieder bedeutende Generalbass-Sololieder. Sie bildeten den Abschluß der Generalbaßzeit und zeigten zudem eine neue Hinwendung zur Schlichtheit und Einfachheit an. Dies bedeutete die Abkehr von kontrapunktischer Satztechnik, wie sie vor allem von J.S. Bach und G.F. Händel praktiziert wurde. Die Liedkomposition entzog sich daher weitgehend den großen Meistern dieser Zeit, abgesehen von Telemann, der zahlreiche Beiträge zur Liedgattung leistete. Ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts versuchte man die Baßführung in den Liedern zu vereinfachen. Dadurch fand eine allmähliche Abkehr vom Generalbass statt, die später zur ausgeschriebenen Klavierbegleitung führte. Was das Klavierlied in Deutschland betrifft, waren vor allem die Komponisten der ersten Berliner Schule (Krause, Ramler, Graun, Agricola, C.Ph.E. Bach...) für dessen Verbreitung verantwortlich. Der französische Chanson-Stil galt als Vorbild. Die nachfolgende Generation, die zweite Berliner Schule (Reichardt, Schulz, Zelter...), orientierte sich an der neuartigen Lyrik von Schiller, Goethe, Klopstock, Hölty und Claudius.

IV. J.S. Bach und das Lied
Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, widmete sich J.S. Bach dem Generalbaßlied nicht so stark, wie anderen musikalischen Gattungen. Da es nur eine geringe Menge solcher Werke gibt, findet man in der bisherigen Bach-Forschung nur wenig Aussagen darüber. Wenn doch, so sind diese meist sehr knapp gestaltet. Es ist nicht bekannt, ob Bach im Familienkreis generalbaß-begleitete Sologesänge praktizierte. Desweiteren ist es in vielen Fällen noch nicht einmal gesichert, ob die Lieder wirklich von J.S. Bach stammen, denn es war zu dieser Zeit nicht üblich bei jedem Lied einer Liedersammlung Verfasser von Text und Musik zu nennen (vgl. Heinemann, Bach-Lexikon, 342). Es ist also durchaus möglich, dass Lieder von Bach in zeitgenössischen Liedsammlungen vorhanden sind, ohne das man dies bisher belegen kann. Bei einigen Stücken des zweiten Clavierbüchleins für Anna Magdalena Bach ist nicht klar, ob J.S. Bach der Autor ist. Dies gilt auch für bekannte Lieder wie die Aria di Giovanni „Willst du dein Herz mir schenken“ (BWV 518) oder „So oft ich meine Tobackspfeife“ (BWV 515). Die Autorenschaft bei fünf, von Johann Ludwig Krebs überlieferten geistlichen Lieder (BWV 519-523), sowie Bachs Anteil an der einflußreichen Liedersammlung Singende Muße an der Pleiße und den sieben geistlichen Oden aus Christian Hofmann von Hofmannwaldaus Sammlung ist umstritten. Darüber hinaus ist auch der Anteil den J.S. Bach am Schemellischen Gesangsbuch hat, nicht eindeutig belegt (Heinemann, Bach-Lexikon, 342).

A. Das „Musicalische Gesangs-Buch“ des G. Chr. Schemelli
Der Zeitzer Schloßkantor G. Chr. Schemelli veranlaßte 1736 die Veröffentlichung von 954 Liedtexten, von denen 69 mit Melodien und Generalbaß ausgestattet waren. Die Melodien wurden von J.S. Bach zum Teil neu komponiert, bei anderen verbesserte er lediglich den Generalbaß. Nach J. Zahn sind folgende 21 Kompositionen J.S. Bach zuzuweisen: 7, 10, 11, 14, 19, 21, 30, 31, 42, 44, 46, 47, 52, 53, 56, 59, 62, 64, 66, 67, 68. Im MGG geht man lediglich von neun Kompositionen Bachs aus. Für die anderen Stücke benutzte er Melodien verschiedener Komponisten und verbesserte diese im Generalbaß. Achtzehn dieser Melodien sind dem Geistreichen Gesangsbüchern des Joh. A. Freylinghaus entnommen. Bei einem Vergleich der Quellen mit der Bearbeitung Bachs fallen neben der verbesserten Bassführung auch immer wieder Änderungen der Melodie auf, die Bachs persönlichen Geschmack kommentieren und die Lieder insgesamt aufwerten. Hierzu gehören Verzierungen wie Triller und Antizipationen ebenso wie melodisch/rhythmische Vereinfachungen, die mehr Ruhe und gleichmäßige Bewegung einbringen. Die Lieder J.S. Bachs im Musicalischen Gesangsbuch sind keine Choräle, sondern geistliche Sololieder (vgl. Seiffert, Seb. Bachs Gesänge, VI). Kein einziges Stück, ob nun von Bach komponiert oder „nur“ umgeformt, ist bleibendes Besitztum des protestantischen Gemeindegesangs geworden. Die Lieder in Schemellis Gesangsbuch sind in 22 verschiedene Gattungen eingeteilt. Als Beispiel nenne ich hier die ersten sechs Gattungen: Morgenlied, Abendlieder, Bußlieder, Von der Rechtfertigung, Vom heiligen Abendmahl, Von Christi Zukunft ins Fleisch. Neben Bach sind Komponisten wie H. Albert, J.R. Ahle, J.W. Franck, Knorr v. Rosenroth und J. Hintze als Melodienlieferanten zu nennen. Unter den zahlreichen Dichtern auf die die Texten zurückgehen befinden sich P. Gerhardt, E. Neumeister und J.H. Schröder. Die Wahl dieser drei Namen ergibt sich lediglich aus meiner Auswahl der notierten Beispiele, die im Anhang zu finden sind. Dort befindet sich auch die komplette Aufzählung der Dichter und Komponisten mit den Liednummern für welche sie verantwortlich sind. (Seiffert, Seb.Bachs Gesänge, Register).

B. Das zweite „Clavier-Büchlein für Anna Magdalena Bach
Im Schaffen J.S. Bachs gibt es drei Sammlungen mit der Bezeichnung Clavier-Büchlein. Während das Erste 1720 begonnene Klavierbüchlein für den Unterricht des ältesten Sohnes Wilhelm Friedemann bestimmt war, wurden die 1722 und 1725 angefangenen Sammlungen für Bachs zweite Frau Anna Magdalena angelegt. Anna Magdalena war die Tochter des am Zeitzer Hof tätigen Trompeters Johann Caspar Wilcke. Sie war als Sängerin am Köthener Hof engagiert, trat aber nach der Übersiedlung der Familie Bach nach Leipzig nur noch selten öffentlich als Sängerin in Erscheinung. Belegt sind Auftritte in Köthen 1724, 1725 und 1729. Darüber hinaus galt sie als talentierte Pianistin. Sie leistete umfangreiche Kopierarbeiten für ihren Mann J.S. Bach und ist für zahlreiche Stücke ihrer Klavierbüchlein als Autorin mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen. Trotz einer aus den häufigen Kopierarbeiten hervorgehenden Ähnlichkeit der Handschriften Anna Magdalenas und J.S. Bachs kann man beim Vergleich Unterschiede feststellen, die Anna Magdalena als Hauptschreiber des Klavierbüchleins von 1725 identifizieren (vgl. Von Dadelsen, Bemerkungen zur Handschrift..., 31). Die Klavierbüchlein befanden sich nicht im Nekrolog J.S. Bachs, welchen Carl Philipp Emanuel Bach und Friedrich Agricola nach Johann Sebastians Tod veröffentlichten. Es ist nicht eindeutig belegt, ob sie die Büchlein für nicht wichtig hielten, oder ob sie zunächst im Besitz Anna Magdalenas verblieben, die erst 1760 starb. 1854 verkaufte die Singakademie zu Berlin die Handschriften an die Königliche Bibliothek in Berlin. In der Bach-Gesamtausgabe (BG) und damit auch im Bach-Werkeverzeichnis (BWV) sind die Sammlungen nicht als Ganzes veröffentlicht (vgl. Bomba, Bachs „Clavier-Büchlein“, 24). Dies geschah erst in der Neuen Bachausgabe (NBA), woraufhin die Musik auf CD festgehalten wurde. Die drei Klavierbüchlein gewährleisten einen Einblick in die Unterrichts- und Musizierpraxis im Hause Bach und damit in gewisser Weise in J.S. Bachs privates Umfeld, was sie für die Bach-Forschung interessant macht. Eine besondere Position nimmt dabei das zweite Klavierbüchlein für Anna Magdalena ein, da es mehr Stücke anderer Komponisten und Schreiber enthält als die beiden anderen Sammlungen und von der Familie sehr gepflegt wurde. Wie bereits erwähnt ist Anna Magdalena die Hauptschreiberin des Büchleins, worauf die hohe Anzahl von Vokalmusik zurückzuführen ist. Aufgrund der unterschiedlichen Handschriften Anna Magdalenas wird deutlich, dass die einzelnen Stücke nicht nach ihrem Entstehungszeitpunkt geordnet in der Sammlung vorliegen. Statt dessen sind sie wahrscheinlich planmäßig angelegt (vgl. Bomba, Bachs „Clavier-Büchlein“, 26). Außer Anna Magdalena sind Carl Philipp Emanuel und Johann Christian Bach als Schreiber belegt, wahrscheinlich auch Johann Gottfried Heinrich und Johann Gottfried Bernhard. Nicht in Erscheinung treten Catharina Dorothea und Wilhelm Friedemann Bach. Im Anhang befinden sich ein Hochzeitsgedicht Anna Magdalenas und einige Generalbaßregeln.

1. Kurze Anmerkungen zu ausgewählten Liedern
Sooft ich meine Tobackspfeife: - Wahrscheinlich von Carl Phillip Emanuel Bach. - Eines von drei Bekenntnissen Bachs zu zeitgenössischen Genußmitteln. - Von Anna Magdalena ein Quarte höher transponiert und erste Strophe hinzugefügt. - Elegantere Ausstattung der Bassführung durch J.S. Bach.

Bist du bei mir: - Seite 76/77 des Büchleins zunächst leer-später Eintrag der Aria durch Anna Magdalena. - Aus 1741 gedruckten Goldberg-Variationen BWV 988. - Zwei Teile: Bist du bei mir/Ach wie vergnügt.

Warum betrübst du dich: - Vielleicht von J.S. Bach komponiert. - Von Anna Magdalena geschrieben. Aria di Giovanni/Willst du dein Herz mir schenken: - Schreiber unbekannt. - Die drei Seiten waren zu der Zeit als Carl Philipp Emanuel das Büchlein numerierte verschwunden. - Liebeslied von Anfang an als Inhalt des Büchleins geplant.

Weitere Wissenschaftliche Arbeiten

Magisterarbeit im Fach Musikwissenschaft

Pierre Boulez/Structure I A (Analyse/Musik des 20. Jahrhunderts-serielle Musik)

Cultural Studies und Musik (Musiksoziologie)

Fusion Jazz (Populäre Musik)

Musik der Zigeuner/Manouche in Frankreich (Musikethnologie)





© 2001, Stefan Q(uast)