I.
Einleitung
Bei der Betrachtung der Liedkompositionen Johann Sebastian Bachs bedarf
es zunächst einer historischen Einordnung. Dabei ist es notwendig,
allgemeine musikalische Bedingungen dieser Zeit zu berücksichtigen
und Merkmale des Liedes im 17./18. Jahrhundert zu benennen. Desweiteren
werden biographische Daten Bachs, die den Zeitraum seines Liedschaffens
umrahmen aufgezeigt, um dann auf die Lieder selbst einzugehen. Welche
Rolle das Lied im kompositorischen Schaffen J.S. Bachs gespielt hat,
wie Bachs Arbeitsweise war, und wie die Gestaltung seiner Lieder sich
darstellt, sind Fragen, die im Folgenden geklärt werden sollen.
Als Hauptquellen Bachscher Lieder dienen das Schemellische Gesangsbuch
aus dem Jahr 1736 und das zweite Notenbüchlein seiner Frau Anna
Magdalena von 1725. Einige Notenbeispiele sind im Anhang zu dieser
Arbeit zu finden. Es handelt sich dabei um Lieder, die nach aller
Wahrscheinlichkeit von J.S. Bach komponiert oder zumindest bearbeitet
wurden.
A. Ausgewählte biographische Daten
Am 21. März 1685 wurde J.S. Bach in Eisenach geboren. Sein Vater
war Stadtmusiker, wodurch J.S. schon sehr früh und fortwährend
mit Musik in Kontakt kam (vgl. Eggebrecht, Musik im Abendland, 420).
Nach dem Tod der Eltern wurde er von seinem ältesten Bruder,
Johann Christoph Bach in Ohrdruf aufgenommen. Dieser war Schüler
des Orgelkomponisten Johann Pachelbel, somit war die weitere Beschäftigung
mit Musik in J.S. Bachs Leben eine logische Konsequenz. 1703 trat
er die Stelle des Organisten in Arnstadt an. Er begleitete dort einen
Schülerchor und spielte bei den sonn- und feiertäglichen
Messen die Orgel. Am 15. Juli 1707 wechselte er seine Stelle und wurde
Stadtorganist und Director musices in Mühlhausen/Thüringen.
Daraufhin folgte 1708 die Anstellung zum Hoforganisten und Kammermusicus
am Weimarer Hof, wo er neun Jahre tätig war und 1714 Hofkonzertmeister
wurde. Die nächste wichtige Station war seine Tätigkeit
als Kapellmeister in Köthen. Hier fand er noch bessere Bedingungen
für sein musikalisches Schaffen vor, als das bereits in Weimar
der Fall gewesen war. Außerdem lernte er dort die damals neunzehnjährige
Sängerin Anna Magdalena Wilcke kennen, die er nach dem Tod seiner
ersten Frau Maria Barbara, 1721 heiratete (vgl. Eggebrecht, Musik
im Abendland, 430). In Köthen beschäftigte sich J.S. Bach
vornehmlich mit der Instrumentalmusik, so entstanden hier beispielsweise
die sehr bekannt gewordenen Brandenburgischen Konzerte. Nach dem Tod
des Leipziger Thomaskantors Johann Kuhnau wurde J.S. Bach dessen Nachfolger
als Kantor und Director musices. Als Musikdirektor der Leipziger
Hauptkirchen sind ihm sowohl deren Organisten als auch die Stadtpfeifer
und Kunstgeiger unterstellt. (Forchert, Johann Sebastian und
seine Zeit, 20). Ein Jahr nach der Aufführung seines ersten Oratoriums,
der Johannes-Passion entstand ab 1725 das zweite Clavierbüchlein
für Anna Magdalena Bach. Schließlich wurde J.S. Bach 1736
Hofkomponist in Dresden. In diese Zeit fällt das Erscheinen des
Musicalischen Gesangsbuch von G.Chr. Schemelli. 1750 starb J.S. Bach
in Leipzig an den Folgen einer Augenoperation.
B. Bedingungen zur Zeit Bachs
Während der Jugendzeit J.S. Bachs hatte Deutschland gerade den
Dreissigjährigen Krieg hinter sich gelassen. Die Folgen waren
aber noch lange nicht überwunden, so war die Situation der Landbevölkerung
weiterhin sehr schlecht. Anzeichen für wirtschaftlichen Aufschwung
und Normalisierung der Lebensverhältnisse gab es vor allem in
Residenz- und Handelsstädten. Fürstliche Selbstdarstellung
am Vorbild Ludwigs XIV rückte in den Mittelpunkt. Theater und
Schlösser wurden neu errichtet oder vergrössert und damit
wurde auch der höfische Kunstbetrieb zu neuem Leben erweckt (vgl.
Forchert, Johann Sebastian und seine Zeit, 39). In Thüringen,
wo Bach eine lange Zeit seines Lebens verbrachte, war dieser Gegensatz
von bäuerlich-bürgerlichem und höfischem Leben besonders
groß. Nahezu jeder Fürst hatte seine eigene Hofkapelle
oder zumindest einige Musiker, die er großzügig entlohnte.
Man stand Neuerungen in der Musik, vor allem denen die aus Frankreich
und Italien nach Deutschland kamen, aufgeschlossen gegenüber.
In den Feldern der Musikausübung, die nichts mit den Höfen
zu tun hatten, war dagegen seit der Reformationszeit alles gleich
geblieben. Die Schule, die Kirche, die Kantoren und die Organisten
waren die Träger jeglicher Musikausübung. Da die Fürstenhöfe
aber einen hohen Bedarf an Musikern hatten und viele provinzielle
Musiker diese Chance, eine Anstellung am Hofe zu bekommen nutzten,
gab es immer wieder Berührungspunkte zwischen den sonst so unterschiedlichen
musikalischen Sphären. Dies bedeutete nicht ausschließlich
Positives, denn wie sich vermuten lässt entstanden eine Reihe
von Streitpunkten, was die Bezahlung der Musiker und den musikalischen
Stil angeht. Alle Musiker dieser Zeit waren von der Verschiedenartigkeit
der musikalischen Bedingungen und Ansichten beeinflusst. Es gab Grenzüberschreitungen
auf beiden Seiten, aber auch heftige Abgrenzungen beider Richtungen
gegeneinander.
Bach, dessen Lebensweg über kirchliche, städtische und
höfische Ämter führte, ist von den verschiedenen Sphären,
in die er damit gelangte, in wechselnder Weise angezogen worden; völlig
verschrieben hat er sich keiner. Und so gibt denn auch das Bild des
Thomaskantors ebensowenig das Ganze seiner Persönlichkeit und
seines Schaffens wieder wie das des Kapellmeisters Bach.
(Forchert, Johann Sebastian und seine Zeit, 41).
II. J.S. Bach und seine Zeit in Leipzig
Da sich diese Arbeit hauptsächlich mit den Liedern J.S. Bachs
auseinandersetzt und sich dabei vorwiegend auf das zweite Notenbüchlein
Anna Magdalena Bachs bezieht, ist es notwendig Bachs Wirken zur Zeit
der Entstehung des Notenbüchleins in Leipzig etwas genauer zu
betrachten. Wie bereits in der Biographie erwähnt, wechselte
J.S. Bach 1723 von Köthen nach Leipzig, um dort die Stelle des
Thomaskantors zu übernehmen. Er wusste, dass ihn dort ein schwierige
und bedeutende Aufgabe erwartete, welcher er sich aber selbstbewußt
stellte. Konflikte sollten sich auch hier ergeben, doch er hatte bereits
bei verschiedenen anderen Stationen bewiesen, dass er bereit war seine
Meinung auch gegen höhergestellte Personen zu verteidigen und
aufrecht zu erhalten. Trotz einiger Streitpunkte waren die ersten
Jahre in Leipzig eine sehr erfolgreiche Zeit für J.S. Bach. Er
war schon vorher sowohl als Klavier- und Orgelspieler als auch als
Komponist recht bekannt, doch nun zählte er zusammen mit Händel
und Telemann zu den wichtigsten Repräsentanten deutscher Musik
(vgl. Forchert, Johann Sebastian und seine Zeit; 126). Diesen hohen
Stellenwert hatte Bach sich jedoch hart erarbeitet. Nachdem er zu
Anfang seiner Tätigkeit in Leipzig noch auf Kantaten zurückgreifen
konnte, die er bereits zu einem früherem Zeitpunkt komponiert
hatte, musste er später jede Woche eine neue Kantate komponieren,
das Aufführungsmaterial herstellen lassen und das Werk mit dem
Chor einstudieren. Intensive und gut organisierte Proben waren daher
unabdingbar. Der Arbeitsaufwand war sowohl für Bach selbst als
auch für seine Chorschüler auf Dauer nicht durchzuhalten,
daher erstreckte sich sein dritter Kantatenjahrgang über mehr
als zwei Jahre (1725/1726) und war zusätzlich in vielen Fällen
nicht so aufwendig gestaltet, wie die vorherigen Jahrgänge. Darüber
hinaus führte er zur jener Zeit einige Kantaten seines Vetters
Johann Ludwig Bach auf. Mit der Aufführung der Matthäus-Passion
1727, mit der J.S. Bach im Hinblick auf Grösse der Besetzung
und Dauer einer Komposition alles in den Schatten stellte, was er
bis dahin komponiert hatte, gelangte er zu noch höherem Ansehen
in der Bevölkerung, im Besonderen unter den Studenten. Die ersten
sechs Leipziger Jahre waren im musikalischen Schaffen Bachs sehr stark
auf die Kirchenmusik konzentriert. Er schrieb aber auch weltlichen
Kantaten und es kam vor das Teile aus den weltlichen Kantaten später
in geistlichen Werken auftauchten. Das Komponieren von Instrumentalmusik
spielte zu dieser Zeit bei Bach eine geringere Rolle. Er stellte es
jedoch nie ganz ein. So begann er 1726 mit seinen Clavierübungen,
die ihn bis kurz vor seinen Tod beschäftigten.
III. Das Lied im 17. und 18. Jahrhundert
Um im weiteren Verlauf eine Einordnung und Bestimmung der Lieder J.S.
Bachs vornehmen zu können, sind zunächst einige allgemeine
Erläuterungen zur Gattung des Liedes im 17./18. Jh zu treffen.
Bei dem zu dieser Zeit üblichen Generalbasslied unterscheidet
man zwischen mehrstimmigem Lied und Sololied. Eine weitere Form ist
das Klavierlied ab dem 18. Jahrhundert. Das Generalbasslied entwickelte
sich in Deutschland aus den mehrstimmigen italienischen Liedgattungen
Vilanella und Canzonetta. M. Franck komponierte sehr viele mehrstimmige,
weltliche Lieder. Zu Nennen sind auch Th. Selle und Joh. H. Schein.
Die meisten Lieder hatten eine direkte Verbindung zum Tanz und waren
teilweise noch stark an der traditionellen Stimmbehandlung mit Cantus-firmus
im Tenor orientiert (vgl. Jost, MGG/Lied, Sp. 1277). Die Texte entstammten
ebenfalls oft älterer Zeit. Schein und sein Schüler Selle
waren in ihren Kompositionen mehr an den italienischen Vorbildern
angelehnt als Franck. Ihre Texte wandten sich einer mythologisierenden
Schäferpoesie zu. Bei Schein werden drei Aufführungsarten
unterschieden:
1. Das rein vokale Lied mit drei Singstimmen,
2. Das rein instrumentale Lied und
3. vokal-instrumental gemischtes Lied.
Das Selbstschreiben der Texte wurde in der Nachfolgenden Generation
kaum noch ausgeübt, man vertonte statt dessen fremde Dichtungen.
Diese waren am Anfang des 17. Jahrhunderts von keiner grossen Qualität,
da die Wortwahl stark vom Ausland beeinflusst war und Unsicherheiten
in der Versmetrik vorlagen. Es ist anzunehmen, dass diese Umstände
mit dafür verantwortlich waren, dass das mehrstimmige Lied lange
Zeit vor dem einstimmigen Generalbasslied rangierte. Erst ab 1640-1680
spielt das kunstvolle, einstimmige Lied eine wichtigere Rolle. Die
textlichen Inhalte befassten sich mit Themen, wie Vergänglichkeit
und Tod, Lebens-und Liebesgenuss, Natur, Einsamkeit und bürgerlicher
Geselligkeit. Das mehrstimmige Lied der zweiten Hälfte des 17.
Jahrhunderts konnte das erreichte Niveau nicht halten. Die Regel war
die Vertonung scherzhafter Texte aus der Tradition der Studentenlieder.
Das generalbaßbegleitete Sololied geht zum einen auf das mehrstimmige
Lied und zum anderen auf die italienische Monodie und deren Prinzipien
zurück. Die Grenzen zum konzertanten, mehrstimmigen Lied sind
jedoch bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts fließend. Nachdem
im 16. Jahrhundert Augsburg und Nürnberg die Zentren des deutschen
Liedes waren, wurde ab ca. 1640 der Norden und hier vor allem Hamburg
immer bedeutender. Hier sind in erster Linie der musikalisch gebildete
Dichter Joh. Rist und der Komponist Joh. Schop zu nennen, die für
eine große Anzahl von Liedveröffentlichungen verantwortlich
sind. Es wurde immer gebräuchlicher schon vorhandene Originalmelodien
zu übernehmen und gegebenenfalls zu verändern. Ähnlich
verhielt es sich mit den Texten, die man häufig lediglich aus
anderen Sprachen ins Deutsche übersetzte. Um 1670 erlebt das
Solo-Generalbaßlied seine Blütezeit in Deutschland. Oft
gab es zum Generalbaß noch eine obligate Violinstimme. In dieser
Zeit entwickelte sich Sachsen zum Zentrum des deutschen Sololiedes.
Die wichtigsten Namen in diesem Zusammenhang sind Hammerschmidt, Dedekind
und A. Krieger, dessen Arien auf Tanz- und Volkslieder zurückgehen
und zwischen den Strophen instrumentale Ritornelle enthalten. Diese
Tendenz zum Konzertanten beeinflusste das Sololied im späten
17. Jahrhundert. Die nachfolgenden Komponisten verwendeten Elemente
der italienischen Kantate und der Opernarie. Das eigentlich Liedhafte
wurden immer mehr zurückgedrängt, womit das geistliche Lied
wieder stärker in den Vordergrund geriet. Im Süddeutschen
Raum behielt das Lied in höherem Maße seinen schlichten
und volkstümlichen Charakter als in Mittel- und Norddeutschland
(vgl. Jost, MGG/Lied, Sp. 1284). Obwohl ein gewisse Verdrängung
durch populärere Formen stattfand, wurde die Liedpflege natürlich
nicht ganz eingestellt, dennoch gilt die Zeit nach 1700 allgemein
als liederlos. Den Komponisten gefiel es ihr Können beim Schreiben
von Kammerkantaten und Opernarien zu demonstrieren. Liedkomposition
galt als niedere Schreibart. Als Lied wurde nun ein Singstück
ohne Kunstanspruch bezeichnet. Erst ab 1730 erschienen wieder bedeutende
Generalbass-Sololieder. Sie bildeten den Abschluß der Generalbaßzeit
und zeigten zudem eine neue Hinwendung zur Schlichtheit und Einfachheit
an. Dies bedeutete die Abkehr von kontrapunktischer Satztechnik, wie
sie vor allem von J.S. Bach und G.F. Händel praktiziert wurde.
Die Liedkomposition entzog sich daher weitgehend den großen
Meistern dieser Zeit, abgesehen von Telemann, der zahlreiche Beiträge
zur Liedgattung leistete. Ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts versuchte
man die Baßführung in den Liedern zu vereinfachen. Dadurch
fand eine allmähliche Abkehr vom Generalbass statt, die später
zur ausgeschriebenen Klavierbegleitung führte. Was das Klavierlied
in Deutschland betrifft, waren vor allem die Komponisten der ersten
Berliner Schule (Krause, Ramler, Graun, Agricola, C.Ph.E. Bach...)
für dessen Verbreitung verantwortlich. Der französische
Chanson-Stil galt als Vorbild. Die nachfolgende Generation, die zweite
Berliner Schule (Reichardt, Schulz, Zelter...), orientierte sich an
der neuartigen Lyrik von Schiller, Goethe, Klopstock, Hölty und
Claudius.
IV. J.S. Bach und das Lied
Wie bereits an früherer Stelle erwähnt, widmete sich J.S.
Bach dem Generalbaßlied nicht so stark, wie anderen musikalischen
Gattungen. Da es nur eine geringe Menge solcher Werke gibt, findet
man in der bisherigen Bach-Forschung nur wenig Aussagen darüber.
Wenn doch, so sind diese meist sehr knapp gestaltet. Es ist nicht
bekannt, ob Bach im Familienkreis generalbaß-begleitete Sologesänge
praktizierte. Desweiteren ist es in vielen Fällen noch nicht
einmal gesichert, ob die Lieder wirklich von J.S. Bach stammen, denn
es war zu dieser Zeit nicht üblich bei jedem Lied einer Liedersammlung
Verfasser von Text und Musik zu nennen (vgl. Heinemann, Bach-Lexikon,
342). Es ist also durchaus möglich, dass Lieder von Bach in zeitgenössischen
Liedsammlungen vorhanden sind, ohne das man dies bisher belegen kann.
Bei einigen Stücken des zweiten Clavierbüchleins für
Anna Magdalena Bach ist nicht klar, ob J.S. Bach der Autor ist. Dies
gilt auch für bekannte Lieder wie die Aria di Giovanni Willst
du dein Herz mir schenken (BWV 518) oder So oft ich meine
Tobackspfeife (BWV 515). Die Autorenschaft bei fünf, von
Johann Ludwig Krebs überlieferten geistlichen Lieder (BWV 519-523),
sowie Bachs Anteil an der einflußreichen Liedersammlung Singende
Muße an der Pleiße und den sieben geistlichen Oden aus
Christian Hofmann von Hofmannwaldaus Sammlung ist umstritten. Darüber
hinaus ist auch der Anteil den J.S. Bach am Schemellischen Gesangsbuch
hat, nicht eindeutig belegt (Heinemann, Bach-Lexikon, 342).
A. Das Musicalische Gesangs-Buch des G. Chr. Schemelli
Der Zeitzer Schloßkantor G. Chr. Schemelli veranlaßte
1736 die Veröffentlichung von 954 Liedtexten, von denen 69 mit
Melodien und Generalbaß ausgestattet waren. Die Melodien wurden
von J.S. Bach zum Teil neu komponiert, bei anderen verbesserte er
lediglich den Generalbaß. Nach J. Zahn sind folgende 21 Kompositionen
J.S. Bach zuzuweisen: 7, 10, 11, 14, 19, 21, 30, 31, 42, 44, 46, 47,
52, 53, 56, 59, 62, 64, 66, 67, 68. Im MGG geht man lediglich von
neun Kompositionen Bachs aus. Für die anderen Stücke benutzte
er Melodien verschiedener Komponisten und verbesserte diese im Generalbaß.
Achtzehn dieser Melodien sind dem Geistreichen Gesangsbüchern
des Joh. A. Freylinghaus entnommen. Bei einem Vergleich der Quellen
mit der Bearbeitung Bachs fallen neben der verbesserten Bassführung
auch immer wieder Änderungen der Melodie auf, die Bachs persönlichen
Geschmack kommentieren und die Lieder insgesamt aufwerten. Hierzu
gehören Verzierungen wie Triller und Antizipationen ebenso wie
melodisch/rhythmische Vereinfachungen, die mehr Ruhe und gleichmäßige
Bewegung einbringen. Die Lieder J.S. Bachs im Musicalischen Gesangsbuch
sind keine Choräle, sondern geistliche Sololieder (vgl. Seiffert,
Seb. Bachs Gesänge, VI). Kein einziges Stück, ob nun von
Bach komponiert oder nur umgeformt, ist bleibendes Besitztum
des protestantischen Gemeindegesangs geworden. Die Lieder in Schemellis
Gesangsbuch sind in 22 verschiedene Gattungen eingeteilt. Als Beispiel
nenne ich hier die ersten sechs Gattungen: Morgenlied, Abendlieder,
Bußlieder, Von der Rechtfertigung, Vom heiligen Abendmahl, Von
Christi Zukunft ins Fleisch. Neben Bach sind Komponisten wie H. Albert,
J.R. Ahle, J.W. Franck, Knorr v. Rosenroth und J. Hintze als Melodienlieferanten
zu nennen. Unter den zahlreichen Dichtern auf die die Texten zurückgehen
befinden sich P. Gerhardt, E. Neumeister und J.H. Schröder. Die
Wahl dieser drei Namen ergibt sich lediglich aus meiner Auswahl der
notierten Beispiele, die im Anhang zu finden sind. Dort befindet sich
auch die komplette Aufzählung der Dichter und Komponisten mit
den Liednummern für welche sie verantwortlich sind. (Seiffert,
Seb.Bachs Gesänge, Register).
B. Das zweite Clavier-Büchlein für Anna Magdalena
Bach
Im Schaffen J.S. Bachs gibt es drei Sammlungen mit der Bezeichnung
Clavier-Büchlein. Während das Erste 1720 begonnene Klavierbüchlein
für den Unterricht des ältesten Sohnes Wilhelm Friedemann
bestimmt war, wurden die 1722 und 1725 angefangenen Sammlungen für
Bachs zweite Frau Anna Magdalena angelegt. Anna Magdalena war die
Tochter des am Zeitzer Hof tätigen Trompeters Johann Caspar Wilcke.
Sie war als Sängerin am Köthener Hof engagiert, trat aber
nach der Übersiedlung der Familie Bach nach Leipzig nur noch
selten öffentlich als Sängerin in Erscheinung. Belegt sind
Auftritte in Köthen 1724, 1725 und 1729. Darüber hinaus
galt sie als talentierte Pianistin. Sie leistete umfangreiche Kopierarbeiten
für ihren Mann J.S. Bach und ist für zahlreiche Stücke
ihrer Klavierbüchlein als Autorin mit hoher Wahrscheinlichkeit
anzunehmen. Trotz einer aus den häufigen Kopierarbeiten hervorgehenden
Ähnlichkeit der Handschriften Anna Magdalenas und J.S. Bachs
kann man beim Vergleich Unterschiede feststellen, die Anna Magdalena
als Hauptschreiber des Klavierbüchleins von 1725 identifizieren
(vgl. Von Dadelsen, Bemerkungen zur Handschrift..., 31). Die Klavierbüchlein
befanden sich nicht im Nekrolog J.S. Bachs, welchen Carl Philipp Emanuel
Bach und Friedrich Agricola nach Johann Sebastians Tod veröffentlichten.
Es ist nicht eindeutig belegt, ob sie die Büchlein für nicht
wichtig hielten, oder ob sie zunächst im Besitz Anna Magdalenas
verblieben, die erst 1760 starb. 1854 verkaufte die Singakademie zu
Berlin die Handschriften an die Königliche Bibliothek in Berlin.
In der Bach-Gesamtausgabe (BG) und damit auch im Bach-Werkeverzeichnis
(BWV) sind die Sammlungen nicht als Ganzes veröffentlicht (vgl.
Bomba, Bachs Clavier-Büchlein, 24). Dies geschah
erst in der Neuen Bachausgabe (NBA), woraufhin die Musik auf CD festgehalten
wurde. Die drei Klavierbüchlein gewährleisten einen Einblick
in die Unterrichts- und Musizierpraxis im Hause Bach und damit in
gewisser Weise in J.S. Bachs privates Umfeld, was sie für die
Bach-Forschung interessant macht. Eine besondere Position nimmt dabei
das zweite Klavierbüchlein für Anna Magdalena ein, da es
mehr Stücke anderer Komponisten und Schreiber enthält als
die beiden anderen Sammlungen und von der Familie sehr gepflegt wurde.
Wie bereits erwähnt ist Anna Magdalena die Hauptschreiberin des
Büchleins, worauf die hohe Anzahl von Vokalmusik zurückzuführen
ist. Aufgrund der unterschiedlichen Handschriften Anna Magdalenas
wird deutlich, dass die einzelnen Stücke nicht nach ihrem Entstehungszeitpunkt
geordnet in der Sammlung vorliegen. Statt dessen sind sie wahrscheinlich
planmäßig angelegt (vgl. Bomba, Bachs Clavier-Büchlein,
26). Außer Anna Magdalena sind Carl Philipp Emanuel und Johann
Christian Bach als Schreiber belegt, wahrscheinlich auch Johann Gottfried
Heinrich und Johann Gottfried Bernhard. Nicht in Erscheinung treten
Catharina Dorothea und Wilhelm Friedemann Bach. Im Anhang befinden
sich ein Hochzeitsgedicht Anna Magdalenas und einige Generalbaßregeln.
1. Kurze Anmerkungen zu ausgewählten Liedern
Sooft ich meine Tobackspfeife: - Wahrscheinlich von Carl Phillip Emanuel
Bach. - Eines von drei Bekenntnissen Bachs zu zeitgenössischen
Genußmitteln. - Von Anna Magdalena ein Quarte höher transponiert
und erste Strophe hinzugefügt. - Elegantere Ausstattung der Bassführung
durch J.S. Bach.
Bist du bei mir: - Seite 76/77 des Büchleins zunächst leer-später
Eintrag der Aria durch Anna Magdalena. - Aus 1741 gedruckten Goldberg-Variationen
BWV 988. - Zwei Teile: Bist du bei mir/Ach wie vergnügt.
Warum betrübst du dich: - Vielleicht von J.S. Bach komponiert.
- Von Anna Magdalena geschrieben. Aria di Giovanni/Willst du dein
Herz mir schenken: - Schreiber unbekannt. - Die drei Seiten waren
zu der Zeit als Carl Philipp Emanuel das Büchlein numerierte
verschwunden. - Liebeslied von Anfang an als Inhalt des Büchleins
geplant. |
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